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Zwischen Handeln und Nichthandeln

Unterlassungspraktiken in der europäischen Moderne

Erschienen am 05.03.2019, 1. Auflage 2019
46,00 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593510064
Sprache: Deutsch
Umfang: 322 S.
Format (T/L/B): 2.1 x 21.2 x 14.2 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Von der Wahlenthaltung über den Konsumboykott bis hin zur Schweigeminute: Oft ist es nicht das Handeln, sondern gerade sein Fehlen, durch das Konflikte ausgetragen und Wandel hervorgerufen werden. Dieser Band setzt sich erstmals systematisch mit diesem Phänomen auseinander, in dem sich Aktivität und Inaktivität überschneiden. Anhand von Fallstudien aus dem 19. und 20. Jahrhundert untersuchen die Beiträge die besondere Eigenlogik und Bedeutung von Unterlassungspraktiken in Europa. Ihre Thematisierung verspricht neue Einsichten in die Konstitution und Dynamik moderner Gesellschaften. Denn gerade im Umgang mit dem Nichthandeln - ob aus Lethargie, zur Vermeidung oder als Widerstand - treten die Ambivalenzen der Partizipationschancen und -erwartungen hervor, durch die sich die Moderne auszeichnet.

Autorenportrait

Theo Jung, Dr. phil., ist wiss. Assistent an der Universität Freiburg im Breisgau.

Leseprobe

Bartleby und das Unterlassen: Elemente einer historischen Praxeologie des Nicht/Handelns Theo Jung Allzu schnell sind wir geneigt, die Abwesenheit von Handeln als bloßes Nichts aufzufassen. Doch in vielen Situationen hinterlässt eine solche Absenz keine konturlose Leere, sondern vielmehr eine scharf umrissene Leerstelle. Im Modus der Unterlassung kann Passivität selbst der Charakter eines Handlungsmodus zukommen. An der Schnittstelle zwischen Aktivität und Inaktivität begegnet uns somit ein Phänomen mit paradoxen Zügen: ein Handeln, das zugleich keines ist, und eine Form der Negativität, die nicht nichts ist. Um die schillernde Gestalt dieses Gegenstandes auf den Begriff zu bringen, soll im Folgenden auf eine typografische Neuprägung zurückgegriffen werden: Nicht/Handeln. Der vorliegende Band setzt sich zum Ziel, das Nicht/Handeln aus historischer Sicht als eigenständigen Modus der sozialen und politischen Praxis in den Blick zu nehmen. Indem diese Praktiken der besonderen Art sich gleichsam lateral, quer zu den üblichen binären Gegensätzen von aktiv und passiv, Fügsamkeit und Widerstand bewegen, entfalten sie eine spezifische Dynamik. Das Spektrum dieser lateralen Praktiken ist bunt und zieht sich durch eine Vielfalt von gesellschaftlichen Feldern. Es reicht vom leisen Ausweichen bis zur schroffen Verweigerung, von der Absenz und dem Ausstieg (mit den Füßen abstimmen) über die Abstinenz (Wahlenthaltung, Schweigen) bis hin zur demonstrativen Ablehnung von Strukturen (Arbeits und Wehrdienstverweigerung) oder symbolischen Akten (dem Applaus, dem Handschlag). Schon die Nicht-Nutzung bestimmter Zeichensysteme (Postleitzahlen, Titel) oder verfügbarer Konsumoptionen (Boykotts, Konsumstreiks) kann einen performativen Eigensinn aufweisen und zudem weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen. Bei aller Vielfalt weisen die Praktiken des Nicht/Handelns jedoch eine Reihe von gemeinsamen und spezifischen Logiken auf, die im Folgenden zum Gegenstand der theoretischen und historischen Analyse gemacht werden sollen. Sozialtheoretisch leistet die Auseinandersetzung mit dem Nicht/Handeln, indem sie sich einer bestimmten Klasse gesellschaftlicher Praktiken nähert, einen Beitrag zur Theorie sozialer Praktiken. Doch darf, wie Andreas Reckwitz vor kurzem erneut betont hat, gerade die Praxistheorie nicht als abstraktes Systemgebilde verstanden werden, das ihrer Anwendung in der empirischen Forschung vorgelagert wäre. Vielmehr muss diese sich als "Heuristik im besten Sinne" immer schon in Verbindung mit der Empirie sozial und kulturwissenschaftlicher Forschung entwickeln. Aus diesem Grund nähert sich der vorliegende Band seinem Phänomen nicht systematisch, sondern induktiv, in einer unabgeschlossenen, einkreisenden Bewegung entlang einer Reihe von Fallstudien aus der europäischen Moderne. Mit Blick auf diesen historischen Gegenstandsbereich verfolgt der Band ein doppeltes Erkenntnisinteresse. Einerseits erschließen die Beiträge ein neues Untersuchungsfeld, indem sie exemplarisch verschiedene Varianten eines Handlungsmodus in den Fokus rücken, dem bisher nur selten gezielte Aufmerksamkeit zuteil wurde. Durch die analytische Konzentration auf das Phänomen der Partizipationsunterlassung verspricht die Erörterung des Nicht/Handelns andererseits aber auch, ex negativo neue Schlaglichter auf die Konstitution und Dynamik europäischer Gesellschaften in der Moderne zu werfen. Denn was es heißt, etwas zu unterlassen, wird stets bedingt durch die Dimensionen dessen, was im gegebenen Kontext als normales oder normatives Verhalten erwartet wird. In der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nicht/Handeln treten somit in besonderer Schärfe die Partizipationschancen, erwartungen und zwänge hervor, durch die sich Gesellschaften konstituieren. Bartleby und das Problem der Negativität Geschichte einer Geschichte "I would prefer not to" antwortet die Titelfigur in Herman Melvilles Kurzgeschichte Bartleby, the Scrivener (1853) eines Tages auf einen gewöhnlichen Arbeitsauftrag seines Vorgesetzten. Die erst wenige Tage zuvor eingestellte Schreibkraft einer Anwaltskanzlei hatte ihre Aufgaben zunächst tadellos und sogar mit außergewöhnlichem Fleiß ausgeführt. Doch nach seiner ersten Weigerung weitet sich der Kreis der Tätigkeiten, die Bartleby lieber nicht ausführt, stetig aus. Schließlich steht er stundenlang reglos vor dem Fenster, auf eine nur wenige Meter entfernte blinde Wand starrend. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des Anwalts. Anschaulich beschreibt Melville das Staunen, die Irritation und zunehmende Verzweiflung, aber auch die Faszination, welche die nicht weiter begründeten, aber beharrlichen Weigerungen Bartlebys bei seinem Vorgesetzten hervorrufen. Schwankend zwischen Mitleid und Entrüstung, Verwirrung und Verlegenheit, bemüht dieser eine Vielfalt von Strategien, seinen Mitarbeiter zur Tätigkeit zu bewegen. Aber umsonst: Bartleby schränkt sein Handeln immer weiter ein, bis sich eines Tages sogar herausstellt, dass er die Kanzlei auch nachts nicht mehr verlässt. Als der Anwalt sich endlich dazu entschließt, Bartleby zu kündigen, antwortet dieser, dass er lieber nicht gehen wolle. Die entstandene Pattstellung wird erst dadurch aufgehoben, dass der Anwalt selbst mit seiner ganzen Kanzlei wegzieht und Bartleby in den alten Büroräumlichkeiten zurücklässt. Wenn er von den verärgerten Nachmietern zu einer weiteren Konfrontation mit seinem früheren Angestellten genötigt wird, ergreift er sogar die Flucht und verlässt die Stadt. Bei seiner Rückkehr nach einigen Tagen erfährt er, dass Bartleby inzwischen verhaftet wurde. Im Gefängnis stellt der ehemalige Schreiber schließlich auch das Essen ein und stirbt. Rückblickend mutmaßt der Anwalt, Bartlebys vorherige Anstellung beim Dead Letter Office - wo Briefe, deren Adressaten nicht ausfindig gemacht werden können, vernichtet werden - erkläre möglicherweise sein rätselhaftes Verhalten. Der Text endet mit einem doppelten Seufzer: "Ah Bartleby! Ah humanity!" Die berühmte Kurzgeschichte ist unzählige Male nacherzählt, gedeutet und umgedeutet worden. Manchen erschien Bartleby als Christusgestalt im Sinne des amerikanischen Transzendentalismus, anderen als autobiographische Stellvertreterfigur für Melville selbst, dessen Misserfolge ihn vom Literaturbetrieb entfremdet und desillusioniert hätten. Die Geschichte wurde als medizinische Fallstudie einer autistischen oder schizophrenen Störung gelesen, aber auch als Pastiche von Henry David Thoreaus Theorie des passiven Widerstands. Mit Blick auf seinen Untertitel - A Story of Wall-Street - konnte der Text als antikapitalistische Kritik gelten, seine Hauptfigur als entfremdeter Arbeiter oder Sozialrevolutionär. Schon 1989 hat der Anglist Dan McCall angesichts dieser weitverzweigten Rezeption von einer regelrechten Bartleby Industry gesprochen, deren paradoxes Ergebnis seiner Meinung nach jedoch vor allem darin bestehe, "that any of its single contributions in light of all its others, and the enormous weight of them together, can only convince us that there never could have been a key". Die Spannbreite der unterschiedlichen Deutungen hat seitdem nur noch zugenommen, auch deswegen, weil sie die Grenzen der philologischen Debatte zunehmend sprengte. In jüngerer Zeit haben vor allem philosophisch orientierte Lektüren Prominenz erlangt. Von Deleuze und Derrida über Agamben bis hin zu Slavoj Zizek haben sich namhafte Denker der Geschichte genähert. Bei allen subtilen Unterschieden ihrer jeweiligen Deutungen fallen dabei zwei Gemeinsamkeiten auf. Zum einen sind ihre Interpretationen nahezu ausschließlich auf die Figur Bartleby und seine paradigmatische Formel ("I would prefer not to") fokussiert. Zum anderen stellt Bartleby in den Augen dieser Autoren stets eine Figur der Hoffnung dar, die Chiffre einer geahnten Möglichkeit jenseits der herrschenden philosophischen und gesellschaftlichen Aporien. Wenn Melvilles Kurzgeschichte im Folgenden erneut zum Anlass...