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Das Solidaritätsprinzip

Ein Plädoyer für eine Renaissance in Medizin und Bioethik

Erschienen am 15.02.2016, 1. Auflage 2016
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593505237
Sprache: Deutsch
Umfang: 184 S.
Format (T/L/B): 1.2 x 21.5 x 14.5 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Der Begriff »Solidarität« erlebt gegenwärtig eine Renaissance: In Zeiten der Corona-Pandemie und ökonomischer Krisen scheint eine Rückbesinnung auf solidarische Werte auch in der Gesundheitsversorgung angebracht. Anknüpfend an die internationale Bio- und Medizinethikdebatte entwickeln die Autorinnen ein neues Solidaritätsverständnis: Anstatt den Begriff nur auf der abstrakten Ebene zu behandeln, zeigen sie anhand konkreter Fallbeispiele, etwa der Schweinegrippe-Pandemie von 2009/10 oder lebensstilbedingten Krankheiten, wie ethische Regelwerke und regulatorische Instrumente aus dem Blickwinkel der Solidarität verändert und verbessert werden können.

Autorenportrait

Barbara Prainsack ist Professorin für Vergleichende Politikfeldanalyse am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Alena Buyx ist Professorin für Professorin für Medizinethik an der TU München; sie wurde 2020 Vorsitzende des Deutschen Ethikrates.

Leseprobe

Einleitung Mit Fug und Recht darf man den Begriff der Solidarität als "schillernd" bezeichnen. Nach einer heterogenen Begriffsgeschichte wird er heute in verschiedenen Fachdisziplinen sehr unterschiedlich definiert und eingesetzt. Sozialwissenschaftler untersuchen Phänomene sozialer Kohäsion unter Verweis auf Solidarität, Moraltheologen entwickeln Theorien globaler Verantwortung auf ihrer Grundlage, und Philosophen debattieren die Zulässigkeit und Reichweite von Gruppensolidarität. Manche streben danach, Solidarität als universelles Prinzip zu konzipieren. Hinzu kommt die breite Verwendung des Begriffs in alltagspolitischen und medialen Debatten. Solidarität ist hier ein viel bemühtes Schlagwort und taucht in ganz unterschiedlichen Kontexten auf. Die Abwesenheit einer klaren Definition des Begriffes führt dazu, dass manchmal völlig gegensätzliche Analysen oder Normen auf den diversen Definitionsspielarten aufgebaut werden. So sehen etwa manche Autoren Solidarität vor dem Hintergrund der derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Krisen als gefährdet an, während andere Krisen als solidaritätsfördernd betrachten. Ähnlich werden zum Beispiel soziale Medien von manchen Autoren als Grundlage neuer solidarischer Bindungen beschrieben, während andere ihre solidaritätszersetzende Wir-kung beklagen. Diese unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Begriffsver-wendungen - teils komplex theoretisch, teils völlig unterbestimmt - haben dazu geführt, dass Solidarität zwar fest in der Alltagssprache und in ein-schlägigen Fachdebatten verankert ist, aber häufig als vages oder schwer zu fassendes Konzept wahrgenommen wird. Obwohl in den unterschiedlichsten Lebensbereichen und intellektuellen Traditionen auf sie Bezug genommen wird, findet man erstaunlich wenige explizite Auseinandersetzungen mit dem Solidaritätsbegriff. Selbst in der Moralphilosophie, zu deren Aufgaben die Analyse moralrelevanter Begriffe gehört, spielt Solidarität eine untergeordnete Rolle - und das, obwohl sich die meisten Autoren einig sind, dass Solidarität jedenfalls ethisch-normative Elemente hat. Auch nach mehr als 15 Jahren muss Kurt Bayertz' Aussage zugestimmt werden, dass das "Phänomen der Solidarität wie ein erratischer Block in der moralischen Landschaft der Moderne [liegt]. Es ist aus dem Alltag wohlbekannt, zugleich aber doch ein Fremdkörper geblieben" (Bayertz 1997: 9). Diese Diagnose trifft auch auf den weiten und interdisziplinären Be-reich der biomedizinischen Ethik zu. Auch hier finden sich gemischt all-tagssprachliche und fachspezifische Verwendungen, und auch hier herrscht begriffliche Verwirrung. In einzelnen Teildebatten wurde der Begriff näher in den Blick genommen; so etwa in den Niederlanden in den späteren 1990er-Jahren im Kontext beginnender Auseinandersetzungen um die gerechte Verteilung knapper Ressourcen im Gesundheitswesen oder angesichts neuer Möglichkeiten genetischer Diagnostik und Therapie (siehe etwa ter Meulen u.a. 2010; Van Hoyweghen & Horstman 2010). Der Versuch, eine Übersicht über Verwendungsweisen und Begriffsdefinitionen zu geben, oder gar eine systematische Untersuchung des analytischen und lösungsorientierten Potentials des Begriffs im Kontext biomedizinethischer Fragen wurden bisher jedoch nicht unternommen. Als noch relativ junger Forschungsbereich hat die biomedizinische Ethik ein besonderes Interesse an der Analyse fachintern wichtiger und grundlegender Konzepte. Autonomie ist ein prominentes Beispiel, Men-schenwürde ein anderes, insbesondere im deutschsprachigen Raum. Umso mehr erstaunt es, dass neben den inzwischen zahllosen Publikationen zu diesen Begriffen nur eine Handvoll von Arbeiten die frequenten, unter-determinierten Begriffsverwendungen der Solidarität untersucht. Angesichts dieses Umstandes - aber auch im Lichte der zunehmenden Popularität von Solidarität in der öffentlichen Debatte (nicht nur) im an-gelsächsischen Raum, wo Solidarität bis dahin eine ganz besonders rand-ständige Rolle gespielt hatte - entschied das Nuffield Council on Bioethics im Jahr 2010, ein Projekt zu Solidarität in der Bioethik zu starten. Das Council, welches de facto die Rolle eines nationalen Ethikrats in Großbritannien einnimmt, obwohl es im Unterschied zu vielen von nationalen Parlamenten bestellten Ethikräten in anderen Ländern unabhängig arbeitet, versprach sich von diesem Projekt den Beginn einer Begriffsklärung von Solidarität in der biomedizinethischen Literatur. Zusätzlich sollten neue Impulse für aktuelle politische Debatten erarbeitet werden. Wir hatten das Vergnügen, das Solidaritäts-Projekt mit dem Council gemeinsam umzusetzen. Das kurze (nur halbjährige), für das Council klei-ne (nur zwei Autorinnen) und ursprünglich weitgehend für ein internes Publikum von Ratsmitgliedern konzipierte Projekt hat seither erfreulichen Widerhall gefunden. Mehr als 50 Kollegen stellten uns in der einen oder anderen Art und Weise ihre Expertise zur Verfügung. Seit der Publikation wurde u.a. eine Konferenz der Schweizer Brocher-Stiftung zu unserer Ar-beit zum Solidaritätsbegriff abgehalten; die belgische König-Baudouin-Stiftung in Zusammenarbeit mit der belgischen Bioethikkommission grif-fen unseren Solidaritätsansatz in ihren Arbeiten zur Mittelverteilung im Gesundheitsbereich auf, und das von uns vorgeschlagene Verständnis des Solidaritätsbegriffes wird seither regelmäßig in der bioethischen Literatur diskutiert. Angesichts des anhaltenden und wachsenden Interesse an dem Bericht und der darauf aufbauenden konzeptionellen und empirischen Arbeit rund um Solidarität (etwa: Dawson & Verweij 2012; Dawson & Jennings 2012; Lyons 2012; Psarikidou u.a. 2012; Chadwick & O'Connor 2013; Krishnamurty 2013; Kowal 2013; Hall u.a. 2014; Hinterberger 2014; Paul u.a. 2014; Rock & Degeling 2014; Snelling 2014) scheint es an der Zeit, dieses neuerliche Interesse am Solidaritätsbegriff (dessen Relevanz keines-falls nur auf die biomedizinische Ethik beschränkt ist) einer deutschspra-chigen Leserschaft näherzubringen. Zwar gibt es bereits einige ausgezeich-nete deutschsprachige Bände zur Solidarität (siehe etwa Bayertz 1997; Brunkhorst 2005); doch steht dem deutschsprachigen Leser bisher weder eine Übersicht der Arbeiten aus dem angloamerikanischen Raum zur Verfügung, noch eine fachspezifische Untersuchung aus dem Feld der biomedizinischen Ethik. Zudem sind wir davon überzeugt, dass die innovativen Aspekte unserer Arbeitsdefinition, die international intensiv diskutiert werden, auch der deutschen Debatte Impulse geben können. Der vorliegende Band stellt die stark überarbeitete und aktualisierte Übersetzung des Projektberichtes dar, welcher im Herbst 2011 im Verlag des Nuffield Council on Bioethics erschienen ist. Es ist dies die erste systematische Untersuchung relevanter Literatur zum Begriff der Solidarität in zeitgenössischen bioethischen Kontexten (Kapitel 3). Hinzu kommen einführende Verweise zur Begriffsgenese (Kapitel 1), eine Diskussion des Solidaritätsbegriffs in verwandten Disziplinen (Kapitel 2) und einige Abgrenzungen von verwandten Begriffen (Kapitel 4). Bei der Projektplanung zunächst nicht vorgesehen, im Rahmen der späteren Arbeit jedoch als zwingend empfunden, enthalten die späteren Kapitel nicht nur eine neue, verschiedene (Teil-)Definitionen synthetisierende Arbeitsdefinition von Solidarität (Kapitel 5), sondern auch drei Fallstudien, in denen diese auf ihr klärendes und problemlösendes Potential hin untersucht wird (Kapitel 6 bis 8). An dieser Stelle wollen wir all jenen, die das Projekt unterstützt und gefördert haben, unseren Dank aussprechen. Zuallererst sei Albert Weale gedankt, dem damaligen Vorsitzenden des Nuffield Council on Bioethics, auf den die ursprüngliche Idee zurückgeht, Verwendungen des Solidaritätsbegriffs in der biomedizinethischen Literatur zur kartieren. Hugh Whittall, der Direktor des Council, hat das Projekt begleitet und die notwendigen Fördermittel eingeworben. Das britische Arts and Humanities Research Coun...

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