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Erben in der Leistungsgesellschaft

eBook - Theorie und Gesellschaft

Erschienen am 18.04.2013, 1. Auflage 2013
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593420165
Sprache: Deutsch
Umfang: 246 S., 2.89 MB
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Format: PDF
DRM: Digitales Wasserzeichen

Beschreibung

Kaum eine Institution ist für die Reproduktion sozialer Ungleichheit so bedeutsam wie die Vererbung von Vermögen. Doch Erbschaften widersprechen dem Leistungsprinzip, mit dem in modernen Gesellschaften soziale Ungleichheit gerechtfertigt wird. Wie gehen wir mit diesem Widerspruch um? Welche Kontroversen entspannen sich um die Vermögensvererbung? Welche normativen Ansprüche werden im Erbrecht reguliert? Mit Bezug auf die Erbschaftssteuer, das Pflichtteilsrecht und die wirtschaftlichen Folgen erbrechtlicher Regulierung diskutiert Jens Beckert diese Fragen.

Autorenportrait

Jens Beckert ist Professor für Soziologie und Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln.

Leseprobe

Sind wir noch modern? Erbrecht und das gebrochene Versprechen der Aufklärung

Seit über zweihundert Jahren zählt die Regulierung des Vermögensübergangsvon Todes wegen zu den Hauptanliegen von Sozialreforme rn. Im 18. und 19.Jahrhundert wurde die Reform des Erbrechts ein dringendes Anliegen von Denkernund Politikern wie Montesquieu, Rousseau, Mirabeau, Thomas Jefferson,Alexis de Tocqueville, Blackstone, Hegel, Fichte und John Stuart Mill. Sie allewaren sich über die Bedeutung einig, die ein Erbrecht, das auf den Prinzipiender Individualität, der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie und der Gleichheitaller vor dem Gesetz beruht, für die Umgestaltung der gesellschaftlichenund familiären Ordnung hat.

Sozialreformer hielten die private Vererbung von Vermögen oft für äußerstproblematisch. Die Reform des Erbrechts wurde daher als ein wesentliches Instrumentder Gesellschaftsreform betrachtet, mithilfe dessen die feudale Ordnungaufgelöst und die bürgerliche Ordnung verwirklicht werden konnte. Sozialreformerverbanden mit der Vermögensvererbung die für aristokratische Gesellschaftencharakteristische Perpetuierung von Statusprivilegien, die im Widerspruchzu grundlegenden bürgerlichen Werten wie Gleichheit und Leistungsorientierungstand. Diese Werte sind aufs Engste mit der Entfaltung der modernenGesellschaft verbunden. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1951)etwa beschrieb Gesellschaftsentwicklung anhand der von ihm defi nierten fünfpattern variables, die je zwei entgegengesetzte Ausprägungen zur Beschreibung derGrundstrukturen sozialer Beziehungen und Institutionen vorsehen. Währenddie sozialen Beziehungen in traditionellen Gesellschaften durch Affektivität,Kollektivorientierung, Partikularismus, Diffusität und Askription gekennzeichnetsind, werden sie in modernen Gesellschaften durch affektive Neutralität,Selbstorientierung, Universalismus, Spezifi tät und Leistung charakterisiert.

Im Folgenden werde ich die in einer der Pattern Variables zum Ausdruckgebrachte Gegenüberstellung näher erörtern: den Unterschied zwischen Askriptionund Leistung. Unter Askription versteht man die institutionelle Zuweisungeines sozialen Status, basierend auf Merkmalen, die einem Menschen qua Geburtzugeschrieben werden. Einer Person werden bestimmte Rechte, Pfl ichten,Rollen oder Privilegien übertragen, die auf der sozialen Stellung ihrer Eltern oder auf Merkmalen wie Geschlecht, Alter, ethnischer Zugehörigkeit oder Nationalitätberuhen. Demgegenüber besagt der Begriff »Leistung«, dass Vermögenund sozialer Status aufgrund des tatsächlichen Leistungsbeitrags der Gesellschaftsmitgliederverteilt werden.

Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die Vermögensübertragung von Generationzu Generation schwer mit den normativen Prinzipien moderner Gesellschaftenvereinbar. Ererbtes Vermögen fällt dem Erben »mühelos« zu, durch denTod eines anderen. Indem die Vermögensvererbung den Fortbestand sozialerPrivilegien sichert, steht sie im Widerspruch zu einer Vermögensverteilung, beider Ungleichheit auf unterschiedlichen individuellen Leistungsbeiträgen beruht.Außerdem verletzt die Vermögensvererbung das Prinzip der Chancengleichheit,das möglichst gleiche Startbedingungen für alle verlangt. Wie lässt sich die »unverdiente« Erlangung von Vermögen im Kontext einer Gesellschaftsordnungrechtfertigen, die soziale Ungleichheit als Ergebnis der unterschiedlichen persönlichenLeistungsbeiträge ihrer Mitglieder legitimiert?

Doch ist für unsere heutigen Gesellschaften die Vermögensübertragung vonGeneration zu Generation wirklich noch ein Problem? Das Thema der Vermögensvererbungbeschäftigte Sozialreformer von der Aufklärung bis zur Mitte des20. Jahrhunderts, als es aus der öffentlichen Debatte fast gänzlich verschwand.Heutzutage ist es ein Randproblem, das zwar gelegentlich auftaucht, aber keine sozialpolitischenKontroversen mehr entfacht. Doch diese Beobachtung ist, für sichallein genommen, nicht interessant. Denn man könnte ja vermuten, dass das Rechtnach einhundertfünfzig Jahren der Reform schließlich »modern« geworden ist undsich der sozialpolitische Diskurs anderen Themen zuwenden kann. Ich werde jedochzeigen, dass dies nicht die ganze Geschichte ist. Vielmehr können wir seitvierzig Jahren in entscheidenden Bereichen des Erbrechts einen backlash beobachten,durch den mit dem Versprechen der Aufklärung gebrochen wird, Askriptiondurch Leistung zu ersetzen. Daher also die Frage: »Sind wir noch modern?«

Zunächst werde ich drei Reformbereiche des Erbrechts darstellen, die für liberaleReformer seit dem späten 18. Jahrhundert von entscheidender Bedeutungsind: Änderungen des gesetzlichen Erbrechts, die Abschaffung der Fideikommissesowie die Einführung einer progressiven Erbschaftssteuer. Ich werde zeigen,wie die Änderungen in diesen Rechtsbereichen als Anerkennung der WerteGleichheit, Leistungsorientierung und soziale Gerechtigkeit aufgefasst werdenkönnen. Anschließend werde ich darlegen, dass in zweien dieser Bereiche seitvierzig Jahren eine Gegenbewegung zu verzeichnen ist, die die früheren Errungenschaftendeutlich schmälert.

Doch ist all das wirklich problematisch? Müssen wir uns immer noch umdie Debatten kümmern, die vor zweihundert Jahren mit Leidenschaft geführtworden sind? Sind die normativen Prinzipien des 18. und 19. Jahrhunderts heute noch relevant? Im letzten Teil werde ich die Frage erörtern, welche Bedeutungdie diagnostizierte Gegenbewegung für die Gesellschaft und für das Konzeptder Modernisierung hat.

1 Erbrecht und Familie

Zunächst also zu den Reformen des gesetzlichen Erbrechts und ihren Folgenfür die familiären Beziehungen.

Historische Analysen zeigen, dass den Reformen des Erbrechts eine entscheidendeBedeutung für politische und gesellschaftliche Modernisierungsprozessebeigemessen wurde (Beckert 2004). Eines der Ziele der Erbrechtsreformendes späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts bestand darin, die Struktur vonFamilienbeziehungen zu ändern. Diese Änderungen wurden gleichzeitig als Teilder Reformen der politischen Ordnung betrachtet. Die Erbrechtsreform, die inFrankreich während der Revolution erfolgte, bringt dies klar zum Ausdruck. Siezielte auf eine Änderung der Familienstrukturen, indem sie Gleichheit zwischenden Kindern anstrebte, die väterliche Willkür bei Erbentscheidungen reduzierteund mit der dynastischen Reproduktion von Reichtum in den Adelsfamilienbrechen wollte. Der durch die Erbrechtsänderungen bewirkte Wandel der Familienstrukturenwar außerdem ein Mittel, um die gesellschaftlichen Bedingungenfür demokratische politische Strukturen zu schaffen. In Frankreich betrachteteman die auf größerer Gleichheit beruhenden Familienbeziehungen als die Fundamente,auf denen die Sozialstrukturen des neuen politischen Gemeinwesenserrichtet werden sollten. In einer immer wieder verwendeten Metapher wurdedie Familie als die »Zelle« der Nation beschrieben, deren Struktur entscheidendenEinfl uss auf die Beschaffenheit der politischen Ordnung haben würde. Familienangelegenheitenwaren somit auch immer eine »affaire dÉtat«.

Diese normativen und politischen Überzeugungen spiegelten sich in verschiedenenReformen wider. Die erste war die Abschaffung des Erstgeburtsrechts, diein dieser Zeit in den meisten europäischen Ländern erfolgte. BemerkenswerteAusnahme war England, wo dieses Recht erst 1925 abgeschafft wurde. In feudalistischenGesellschaften spielte das Erstgeburtsrecht eine wichtige Rolle bei dergenerationenübergreifenden Bewahrung wirtschaftlicher und politischer Macht,weil das Vermögen im Erbgang nicht zwischen den Geschwistern aufgeteilt wird.Seine Abschaffung trug dazu bei, mit dieser Gesellschaftsordnung zu brechen.

Weitere Reformen des gesetzlichen Erbrechts betrafen die Gleichstellungvon Söhnen und Töchtern sowie die Rechte des überlebenden Ehepartners amNachlass des Verstorbenen. Während Söhne und Töchter die Gleichheit vor dem Gesetz mit der Abschaffung des Erstgeburtsrechts erlangten, war die Stärkungdes Erbrechts des überlebenden Ehepartners ein lang andauernder Prozess,der erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinen Abschluss fand.Hierbei geht es großenteils um die Frage der Gleichstellung von Mannund Frau. Das Eigentumsrecht begünstigte die Männer. Im Gewohnheitsrecht(Common Law) kam dies am deutlichsten zum Ausdruck. Dort war festgelegt,dass die Verfügungsrechte über das Eigentum einer Frau bei ihrer Heirat anihren Ehemann übergingen. Das bewegliche Vermögen der Ehefrau wurde demEhemann übertragen und somit auch von ihm weitervererbt. Immobilienvermögenblieb zwar formell im Eigentum der Ehefrau, die Erträge hieraus gehörtenjedoch dem Ehemann. Die Ehefrau wurde, kurz gesagt, zur femme couverte.Rechtlicher Hintergrund von alledem war das Prinzip der Eheeinheit (MaritalUnity) im Common Law. »Vollzieher« dieser Einheit war der Ehemann. »Thehusband and wife are one person in law«, lautete das berühmte Diktum vonWilliam Blackstone ([1771]2001, Bd. 1: 339).

Die Reformen zur Stärkung der rechtlichen Stellung des überlebenden Ehepartnersbegannen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während einesZeitraums von einhundertfünfzig Jahren lässt sich im Eigentums- und im Erbrechtein kontinuierlicher Angleichungsprozess der Rechte von Mann und Fraubeobachten. Diese Tendenzen machen eine zunehmende Durchsetzung desGleichheitsprinzips deutlich. Außerdem zeigen sie die abnehmende Bedeutungder dynastischen Vermögensvererbung in der männlichen Blutlinie auf.Die Erbrechtsreformen, die in die traditionellen Familienbeziehungen eingriffen,um Gleichheit innerhalb der Familie anzustreben, beschränkten sich jedochnicht auf die Gleichstellung von Mann und Frau. Insbesondere in Frankreich,doch auch in Deutschland sollte das normative Prinzip der Gleichheitaußerdem durch eine Beschränkung der Testierfreiheit durchgesetzt werden. Sowurde in Frankreich die Testierfreiheit während der Revolution komplett abgeschafft,und selbst heute ist sie durch die Bestimmungen des Code Civil starkeingeschränkt.

Inhalt

InhaltDank ... 7Einleitung ... 9Teil I Erbschaft und ModerneSind wir noch modern? Erbrecht und das gebrochene Versprechen der Aufklärung ... 23Im Würgegriff der toten Hand, Mit Peter Rawert ... 37Erbschaft und Leistungsprinzip: Dilemmata liberalen Denkens ... 41Lachende Erben? Leistungsprinzip und Erfolgsorientierung am Beispiel der Eigentumsvererbung ... 65Erbschaft als unverdientes Vermögen und als Kapital für Investitionen und Arbeitsplätze ... 73Teil II Die historische Entwicklung des ErbrechtsDie longue durée des Erbrechts: Diskurse und institutionelle Entwicklung in Frankreich, Deutschland und den VereinigtenStaaten seit 1800 ... 87Demokratische Umverteilung: Erbschaftsbesteuerung und meritokratisches Eigentumsverständnis in den USA ... 129Teil III ErbschaftssteuernWie viel Erbschaftssteuern? ... 153Der Streit um die Erbschaftssteuer ... 179Teil IV Aktuelle Herausforderungen für das ErbrechtFamiliäre Solidarität und die Pluralität moderner Lebensformen: Eine gesellschaftstheoretische Perspektiveauf das Pflichtteilsrecht ... 195Gesellschaftspolitische Herausforderungen für das Erbrecht ... 217Literatur ..................................................................................... 229Quellen ...................................................................................... 245

Schlagzeile

Theorie und Gesellschaft

Herausgegeben von Jens Beckert, Rainer Forst, Wolfgang Knöbl, Frank Nullmeier und Shalini Randeria

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