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Seiltänzer des Paradoxalen

Aufsätze zur ästhetischen Wissenschaft, Edition Akzente

Erschienen am 16.09.2006
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446208001
Sprache: Deutsch
Umfang: 272 S.
Format (T/L/B): 2.3 x 20.6 x 12 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

In meisterhaften Textlektüren beschäftigt sich der Literaturwissenschaftler David E. Wellbery mit maßgeblichen Werken der Moderne (u. a. Laurence Sternes "Tristram Shandy", Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre", E.T.A. Hoffmanns "Prinzessin Brambilla", Kafkas "Schweigen der Sirenen" und Hofmannsthals "Chandos-Brief"), die neben dem Dargestellten auch die Bedingungen ihrer Darstellung reflektieren. Das Buch macht literarische Form sichtbar als einen seiltänzerischen Akt, der sich in prekärer Balance von Vollendung und Brüchigkeit je neu, je anders vollzieht.

Autorenportrait

David E. Wellbery, geboren 1947, ist Professor für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of Chicago. Er hat unter anderem Monographien über Lessing, Goethe und Schopenhauer vorgelegt.

Leseprobe

Daß sich diese Aufsätze als Beiträge "zur ästhetischen Wissenschaft" präsentieren, mag dem Leser, der die Anspielung auf den ersten Satz von Friedrich Nietzsches Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik mithört, als Anmaßung erscheinen. Durch die Verwendung des Begriffs sollte jedoch nicht das Prestige des Klassikers in Anspruch genommen, sondern eine methodologische Pointe herausgestellt werden, die für die Arbeiten dieses Bandes gilt. Denn Nietzsches genialer Entwurf macht deutlich, daß ästhetische Theorie ihre fruchtbarsten Einsichten der intensiven Auseinandersetzung mit individuellen Kunstwerken verdankt. Er macht aber ebenfalls deutlich, daß die Lektüre einzelner Texte nur dann Überzeugungskraft gewinnt, wenn sie sich an der Leitfrage orientiert, was Kunst - in diesem Fall: literarische Kunst - überhaupt sei. Ästhetische Theorie hat sich an der Entfaltung der je spezifischen Formdynamik der Werke zu bewähren; diese aber zeigt sich nur dann, wenn sie - so Nietzsche im Schlußkapitel der Geburt der Tragödie - in der "rein aesthetischen Sphäre" angesiedelt wird. Das klingt zwar wie Ästhetizismus, und Nietzsches Tragödienschrift hat ihm, zumal von seinen gescheitesten Kritikern (Walter Benjamin, Peter Szondi, allen voran Nietzsche selbst), diesen Vorwurf eingebracht. Ästhetizismus entsteht jedoch dort, wo die Hinwendung zu genuin ästhetischen Fragestellungen zum Zeremoniell erstarrt bzw. der Ausblendung und damit der Verleugnung anderer Dimensionen menschlichen Lebens und Leidens dient. Das muß nicht der Fall sein. Denn die Erkenntnis des Ästhetischen ist auch die Erfassung ihrer spezifischen Differenz; sie schließt nicht aus, sondern vielmehr ein, daß die Bezüge, die ästhetischer Erfahrung ihren Stellenwert im Gesamtgefüge menschlicher Artikulationsmöglichkeiten verleihen, ständig im Blick gehalten, daß die Hinfälligkeit ästhetischer Erfahrung sowie die Anfechtungen, denen sie ausgesetzt ist, mitreflektiert werden. Genau dieser Sachverhalt wird angesprochen, wenn Nietzsche in seinem Versuch einer Selbstkritik behauptet, in der Tragödienschrift werde die Kunst unter der Optik des "Lebens" gesehen. ... Als Beiträge zur ästhetischen Wissenschaft verstehen sich die Aufsätze in dem Sinne, daß sie allesamt bemüht sind, mittels der Begriffe, die diverse literatur-, sprach- und kulturtheoretische Modelle bereitstellen, das den untersuchten Werken immanente ästhetische Reflexionspotential freizusetzen. Diese Zielsetzung ergibt sich aus der Tatsache, daß es sich auf der Gegenstandsseite durchgehend um moderne Literatur handelt; das heißt, um Texte, deren Entstehung ein ausdifferenziertes soziales Funktionssystem Kunst zur Rahmenbedingung hat. Eine solche gesellschaftliche Verortung des Umgangs mit Kunst (Produktion, Vermittlung, Rezeption) liegt in Europa seit etwa Mitte des achtzehnten Jahrhunderts vor. Um diese Zeit konsolidierte sich das "moderne System der Künste"; um diese Zeit kam die Ästhetik als eigenständige philosophische Disziplin auf. Die hergebrachte Bezeichnung für den geschichtlichen Sachverhalt, um den es dabei geht, lautet: Autonomie der Kunst. Leseprobe

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