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Die Schattenboxerin

Roman

Erschienen am 02.05.2006
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783442735044
Sprache: Deutsch
Umfang: 190 S.
Format (T/L/B): 1.6 x 18.8 x 11.9 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Ein spannender Großstadtkrimi von Bachmannpreisträgerin Inka Parei. Ein verfallenes Haus in Berlin Mitte. Hier lebt Hell, ein junges Mädchen, das von asiatischer Kampfkunst begeistert ist und sich irgendwie durchschlägt im Berlin der Wendezeit. Als Hells Nachbarin, mit der sie ein Etagenklo teilt, spurlos verschwindet, macht sie sich auf die Suche, gerät in Lebensgefahr, verliebt sich in einen Bankräuber, wird von dunklen Erinnerungen verfolgt und kann am Ende nicht nur die Vermisste retten.

Leseprobe

1 Sie ist meine Nachbarin. Seit Jahren leben wir im gleichen Stockwerk. Ab und zu stoßen wir gemeinsam unsere schweren Schlüssel in die Gründerzeittüren. Dann verschwinde ich in meinem Hausflur, einem langen, schmalen Schlauch, belegt mit gelbem Hanf, kaum einen Meter breit. Und sie in ihrem, mit den noch im Einheitsbraun der vierziger Jahre gestrichenen Dielen. Die Farbe ist scheußlich. Matt glänzend und kaum zu entfernen, ähnelt sie dem Kot, den die Schäferhunde hier aufs Pflaster werfen, wenn sie von ihren Besitzern mit rostfarbenen Fertigfutterklumpen ernährt werden. Seit einer Woche ist es still im Seitenflügel des ehemals vornehmen jüdischen Mietshauses in der Lehniner Straße, den wir als einzige noch bewohnen, sie und ich. Ein Trakt mit düsteren Berliner Zimmern, geformt wie Quadrate, denen man eine Ecke abgehackt hat, Zimmer mit drei Außenwänden, praktisch unbeheizbar, und das Klo liegt auf halber Treppe. Vor Beginn des Winters sind die wenigen noch vorhandenen Mieter ausgezogen, meist in die Nähe irgendwelcher Verwandter, in den Plattenbau, mit Zentralheizung und Müllschlucker, draußen in Marzahn oder Hellersdorf. Zuletzt ging eine halb im Keller hausende, verwahrloste Greisin. Sie hatte sich seit zwanzig Jahren geweigert, ihr Quartier zu verlassen. Halbblind, die offenen Beine mit geblümten Lappen umwickelt, wurde sie Anfang November ins Altersheim gebracht. Ich bin mir jetzt sicher, daß ich allein im Haus bin. Seit Tagen habe ich das Brüllen unserer gemeinsamen Wasserspülung nur noch selbst ausgelöst, meine Nachbarin ist nicht mehr da. Kein Schlüsselbundklappern, kein Hüsteln, keine fremden Schritte sind mehr zu hören. Gelegentlich wird die Hoftür von einem Windstoß erfaßt und ins Schloß geworfen. Sonst ist alles still, still wie Stein. Nur das Echo meiner Fußtritte hallt auf den zersplitternden Kacheln der Aufgänge. Ich schlage die Kapuze meines Anoraks hoch, schultere ein Bündel Plastiktüten und betrete den Hof. Mit einer langen Hakenstange bewaffnet, will ich den Abfall der vergangenen Woche fortschaffen. Seit im Sommer das letzte Mal Müllmänner hier auftauchten und die alten eisernen Tonnen fortnahmen, ist das ein Vorgang, der spezielles Werkzeug und nicht zu unterschätzende Geschicklichkeit verlangt. Ideal ist der späte Vormittag, wenn die Berufstätigen des Nachbargrundstücks nicht mißbilligend aus dem Fenster starren. Ich trete an den Maschendrahtzaun, der seit Wiedereinführung des Privateigentums über den kleinen, gemauerten Sockel gezogen wurde, der ihr Grundstück von unserem trennt. Vorsichtig schiebe ich die Stange durch ein handgroßes Loch, bis der Haken den Plastikgriff des Müllbehälters umschließt, und öffne den Deckel, indem ich das Ende meiner Stange nach unten stoße. Dann muß ich die prall verschnürten, hellgrünen Beutel so hochwerfen, daß sie in spitzem Winkel jenseits des Drahtes nach unten fallen und bestenfalls in der Öffnung, oder doch wenigstens in ihrer Nähe landen. Einige Minuten lang werfe ich Tüten über den Zaun und korrigiere ihre Lage. Dann drehe ich mich um, greife nach einem hinter mir stehenden Beutel mit Pfandflaschen. Und plötzlich sehe ich dieses Schild. Gestern ist es noch nicht dagewesen. Es ist an die grauverschorfte, mit Graffiti und nasser Brikettasche bedeckte Hauswand geschraubt. Ein glänzend neues Schild, das Schild einer Baufirma. Name und Adresse stehen eingerahmt unter dem Lackzeichen eines blauen Doppelhauses. Ich lehne mich an den Zaun, schließe die Augen, atme nasse Winterluft und stelle mir die Wand leer vor. Dann öffne ich die Augen erneut. Das Schild ist noch da. Unwahrscheinlich, daß man dieses verfallene Haus einfach vergessen würde, während alle anderen nach und nach saniert werden. Es war vorhersehbar, daß ich mich hier nicht ewig würde verkriechen können, ohne Mietvertrag, von keiner Verwaltung gekannt oder registriert. Aber warum muß zur gleichen Zeit auch noch die letzte offizielle Bewohnerin hier verschwinden, die Frau, die Dunkel heißt und mein Fl Leseprobe

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